INTERMUNDIA

Fotodrucke auf Leinwand mit Überlagerung, 110 x 180 cm, 2017

 

„Die Sirenen haben eine noch wirksamere Waffe als den Gesang, das Schweigen. Das ist möglicherweise nicht vorgekommen, aber es könnte sein, dass sich jemand vor deren Gesang rettet, aber sicher nicht vor deren Schweigen.“  Franz Kafka

Sirene des Sees

Schon im Altertum hat die Sirene oder auch Meeresjungfrau Staunen und Verwunderung hervorgerufen – Fantastereien, auf die der Mensch Träume und unglaubwürdige Geschichten gebaut hat, voller Rätsel und Faszination. Seit je her unterliegt dieses vieldeutige Wesen zwischen Himmel und Erde, Wasser und Luft stetiger Wandlungen. Während die ersten göttlichen Sirenen in der griechischen Mythologie Mischwesen zwischen Frau und Gefieder waren, so tritt sie mit dem Mittelalter, durch Folklore und Fantasy Literatur, in die kollektive Vorstellung in Gestalt einer halbnackten weiblichen Figur, mit sehr langen welligem Haar und einer zweiten Körperhälfte in Form eines goldenen Fischschwanzes. Hans Christian Andersen machte sie durch sein wunderschönes Märchen berühmt, das 1837 zum ersten Mal veröffentlicht wurde: „Die Meeresjungfrauen haben keine Tränen, deshalb leiden sie viel mehr.“ Die Kunstgeschichte ist reich an sichtbaren Beispielen für das Zelebrieren des Mythos der Meeresjungfrau, allen voran sicher die Präraffaeliten wie John William Waterhouse, Frederic Leighton oder John Maler Collier, die mit der charakteristischen präraffaelitischen, verträumten Malerei, – detailreich, kostbar und verführerisch -, die Figur der Sirene unsterblich gemacht haben.

Für die dritte Edition von Lagolandia am See von Santa Maria a Castiglione dei Pepoli, nimmt die Künstlerin Monica Camaggi die einzigartig kostbare und verträumte Atmosphäre wieder auf und zeigt eine Installation ‚site specific‘, die sich aus sechs hintereinander gereihten Meeresjungfrauen-Schnappschüssen zusammensetzt und die man einzeln entlang der Seebuchten entdeckt. Das Werk mit dem Titel „Intermundia“ reflektiert mehrere Aspekte: die Frage nach der Bedeutung und der semantischen Kraft eines Symbols wie das der Sirene in der heutigen Zeit, der fruchtbare Austausch zwischen Realität und Fiktion, der der Kunst eigen ist und der Wechselseitigkeit zweier Darstellungsformen wie die Malerei und die Photografie.

 

Zwischen den Welten

Auch dieses Mal setzt die Künstlerin das Medium Fotographie als Darstellungsmittel ein, um einen phantastischen Aspekt auf gewisse Weise real werden zu lassen; wie viele andere, gehört auch sie zu der Reihe Künstler, die sich der Fotographie bedienen um einen Traum wahrhaft zu machen.

In „Intermundia“ reihen sich sieben weibliche Figuren, von hinten gesehen, aneinander und betrachten eine fiktive, hypothetische, ja poetische Weite; sie posieren wie Venus (sie erinnern ein wenig an „Venus und Cupido“ (Venere Rokeby) von Diego Velázquez aus dem Jahre 1648). Die Camaggi nimmt das akademische Portrait wieder auf, sie fixiert ihre Subjekte dauerhaft und bei einer zweiten Behandlung des Bildes wendet sie die digitale Überlagerung an, indem sie über die ursprüngliche Ablichtung der Sirene von hinten, die Ablichtung des Sees und des Himmels gibt.

Bildüberlagerungen – im Übrigen sehr kostspielig – geschah bei den ersten Versuchen im 19. Jahrhunderts mit echten Filmen, mit dem Anspruch malerisch-phantastische Atmosphären zu schaffen. So ist in „Intermundia“ das endgültige Bild, ein Hybrid aus drei parallelen Atmosphären, dreier phantastischer Verbindungen, die in ihrer Natur des Seins, die Fusion mit dem Ganzen erfahren. Das Studioportrait verbindet sich mit den realen Bildern von Himmel und Vegetation. Die Realität und die Fiktion begegnen sich genauso wie ein Amphibie die Unterschiede in sich vereint; „Intermundia“ verbindet – so wie es die Camaggi sehr gerne tut – verschiedene Makrowelten, wie Himmel und Erde.

Abgewandte Venus

Die Wiederaufnahme des akademischen Portraits in den ausgestreckten Posen unterstreichen eine weitere Charakteristik der Künstlerin – sie lässt die Photographie äußerst malerisch erscheinen und bekräftigt somit eine osmotische und vieldeutige Relation zwischen den beiden Methoden der Darstellung. Das Spiel der Lichtreflexe auf dem Bildnis, wie auch direkt auf der Wasseroberfläche des Sees, entfesselt einen Austausch von doppelten (S) – objektbezogen, verwirrend, mystisch, die Doppelgänger der Sirenen – die sich in den Augen der Betrachter spiegeln, noch bevor sie sich im Wasser spiegeln; die der Umgebung, der Vegetation und der Wasseroberfläche verschmelzen zwischen Realität und Fiktion in einem konfusen, traumähnlichen sichtbaren Kontinuum. Die Meeresjungfrau ist nicht nur ein mystisches, volkstümlich historisiertes Subjekt, sondern ist ganz und gar eine Ikone der Gegenwart, auf Grund ihrer paradoxen Komponente. Das Paradoxe liegt in der physiologischen Unmöglichkeit der Meeresjungfrau die erotisch-sexuellen Wünsche, die sie im Betrachter weckt, zu befriedigen. Sie lebt zwar zur Hälfte in einem Frauenkörper und kann somit verführen und den Voyeur verleiten, aber dennoch macht das Fehlen des genitalen Fortpflanzungsapparats den finalen Akt unmöglich.

In „Intermundia“ zeigt uns die antike und gegenwärtige Sirene die Schulter; mit Blick auf eine zu entdeckende Zukunft im völlig in der Umgebung eingetauchten Pantheismus, lädt sie uns, mit Faszination dazu ein, stillschweigend etwas zu betrachten, das vergessen, verloren war und das nur in der Schönheit eines Blicks und eines aufmerksamen Zuhörens eingehaucht werden kann.